Die auf 2400 Metern über Meer gelegene Kleinstadt Iten im Herzen Kenias hat sich zu einem wahren Laufsportmekka entwickelt. Iten nennt sich «Heimat der Champions», und alles wird mit dem Label «Champions» versehen: der Schuhladen ebenso wie der Souvenirshop, der Coiffeur und das Gästehaus. Es gibt hier keinen Supermarkt, aber im Laufsportladen werden Stella-McCartney-T-Shirts verkauft, und auf der Strasse kann man sich mit olympischen Medaillenträgern unterhalten. Ansonsten ist Iten ein verschlafener Ort. «Hier kann ich mich konzentrieren. Ich trainiere, schlafe, esse ... und dann wieder das Ganze von vorn», sagt Julien. «Für mich passt das perfekt.»
Zorniger junger Mann
Julien Wanders wuchs in Genf auf, aber er fühlte sich dort nie zu Hause. «Ich war immer Aussenseiter. Die meiste Zeit war ich wütend, aber als ich das erste Mal nach Iten kam, senkte sich mein Stresspegel sofort. Ich fand hier einen inneren Frieden, den ich in der Schweiz nicht kannte. Mein Ziel war schon immer, zu laufen und einfach zu leben, ohne vorzugeben, jemand anders zu sein. In Kenia wurde ich ruhiger.» Wanders begann mit 6 Jahren, Leichtathletik zu trainieren, und mit 15 beschloss er, Profiläufer zu werden. In der Schule befasste er sich mit der Laufkultur Kenias. «Da hörte ich zum ersten Mal von Iten», erinnert er sich. «Ohne diesen Ort je gesehen zu haben, wusste ich sofort, dass ich dorthin ziehen wollte. Natürlich konnte ich das meinen Eltern nicht sagen! Also blieb ich beim ersten Mal nur einen Monat und trainierte mit den Kenianern.»
Damals war Julien 18. Diese ersten paar Wochen waren für ihn erfüllend, aber auch herausfordernd. Er teilte sich eine einfache Unterkunft mit einem kenianischen Laufkollegen. Sie mussten ihr Wasser vom Brunnen holen, Strom war knapp, und jeden Tag assen sie das Gleiche. Die französische Sprache fehlte ihm, er vermisste Käse und Schokolade. Während seines ersten Aufenthalts verausgabte er sich im Training fast bis zur Depression. «Als ich heimkam, machten sich meine Eltern Sorgen», erklärt er. «Aber ich sagte ihnen, dass ich für immer nach Kenia ziehen wolle. Sie sind beide in der Musikwelt tätig, und glücklicherweise haben sie meinen Wunsch nach einem für Schweizer Begriffe ungewöhnlichen Leben akzeptiert.
Manchmal fühle ich mich hier wie der wie ein Kind: Ich verlerne die Begrenzungen in meinem Kopf. Ich denke daran, dass ich frei bin, zu tun, was immer ich will.» Wanders und seine Freundin Kolly sind vor kurzem in eine grössere Wohnung gezogen. «Kolly überredete mich, eine Couch und andere Möbel zu kaufen, und einen Fernseher... Jetzt ist es nett hier. Ich habe sogar eine Espressomaschine aus der Schweiz. Aber wenn ich allein wäre, hätte ich wohl nur ein Bett und Laufschuhe. Im Herzen bin ich Minimalist», meint Wanders.
Überleben
Juliens Körperbau ist muskulös und doch zart. Er ist still und zurückhaltend gegenüber Unbekannten. Wie ein angespanntes Rennpferd zieht er sich vor Trainings-einheiten noch mehr zurück, bleibt abseits der Gruppe und redet mit niemandem. Erst nach dem Training entspannt er sich. Er scheint von einer Kraft tief im Inneren getrieben, im Wettkampf läuft er mit Verbissenheit. Zunächst trainierte Wanders mit verschiedenen Athleten, doch seit ein paar Jahren wählt er Läufer aus, die ihn pushen. Er hat sein eigenes Team gegründet und ist nun mit vielen Kollegen in engem Kontakt.
«Laufen ist Teamarbeit: Jeden Tag allein zu trainieren, ist in mentaler Hinsicht unmöglich.» Sein Coach schickt ihm aus der Schweiz wöchentlich Trainingspläne, die die Athleten abarbeiten. Die Gruppe trainiert zweimal täglich und ist eine der härtesten in Iten. «Viele Läufer, die dazukommen, ziehen sich kommentarlos wieder zurück», bemerkt Julien. Diejenigen, die dabeibleiben, berichten von immensen Verbesserungen ihrer Trainingszeiten.
"Laufen ist Teamwork."
Schweizer Langstreckenläufer
Wanders managt die Truppe: Er organisiert und finanziert Transport, Benzin, Trinkwasser, die Reservierung der Laufbahn – sogar während seiner Rennen im Ausland. Viele seiner Laufkollegen stammen aus armen Verhältnissen, einige haben nicht einmal genug Geld für Essen. Wanders möchte nicht, dass sie aufhören, weil sie sich den Aufwand nicht leisten können.
Kolly ist in Iten aufgewachsen und mit heute weltberühmten Läuferinnen und Läufern zur Schule gegangen: «In Kenia wird der Laufsport nicht aus Leidenschaft betrieben, sondern in der Hoffnung, eines Tages entdeckt zu werden und vom Laufen leben zu können.» In der grossen Höhe ist das Training der Männer eine schmerzhafte Herausforderung für die Lunge und für die Seele. Bei ihren Zeitläufen spucken, keuchen, schnauben und grunzen sie mit verzerrten Gesichtern, als wollten sie jemanden umbringen. Mit Tempo 3:01 laufen sie neben Kornfeldern und Hütten. Am Strassenrand versuchen Schulkinder, kur z mitzuhalten. Nach 14 Kilometern bleiben die Läufer stehen, vornübergebeugt, ihre Körper dampfen in der kühlen Morgenluft. Ihre Erleichterung ist spürbar: Wieder einen Tag überlebt. Völlig ausser Atem klatschen sie ab und schlüpfen am Strassenrand in trockenes Gewand. Juliens Hemd trieft vor Schweiss.
Laufen ist wie atmen
Viele Kollegen bekennen, dass sie vor dem Training nervös sind. «Das wird hart heute», sagen sie mit Resignation in der Stimme, «aber wir werden die Dosis schlucken, die Julien uns verschreibt.» Mit einer Geste deuten sie ein Messer an, das ihre Kehlen durch-schneidet. Sie strecken die Zunge raus, als wären sie tot. An solchen Scherzen beteiligt sich Julien nie. Für ihn ist laufen wie atmen: lebensnotwendig. «Ich kenne niemanden, der so radikal ist wie ich. Weder in Kenia noch sonstwo. Das ist nicht immer leicht.» Seine Kollegen schauen zu ihm auf, aber sie merken, sein Engagement ist auf einem anderen Level als ihr eigenes. «Er denkt nur ans Training. Für ihn ist es schwer, etwas zu machen, das nichts mit Laufen zu tun hat», sagt Sylvester Kiptoo, Juliens bester Freund und selbst ein Eliteläufer.
«Er ist anders, dieser Julien», so Timothy Kipkorir Limo, ein Coach, der ihn seit seinem ersten Kenia-Aufenthalt kennt. «Er hat die mentale Einstellung eines Champions.» Wanders nimmt sich selten frei und trainiert selbst in seinem jährlichen Urlaub jeden Tag. «Ich liebe mein Leben und meinen Alltag in Iten. Früher geriet ich aus meinem aus geglichenen Zenzustand, wenn ich von Iten wegmusste, aber heute bleibe ich ruhig. Ich verschwende keine Energie mehr auf Kleinigkeiten; ich habe gelernt, überall auf meine Art zu leben. Aber wenn ich länger als zwei Wochen weg bin, kriege ich Heimweh.»
Information:
Julien Wanders, 23, ist ein Schweizer Langstreckenläufer. Er hält den aktuellen Europarekord über 10 Kilometer (27:13) und über die Halbmarathon-Distanz (59:13). Im Februar 2019 stellte er beim Herculis-Rennen in Monaco mit 13:29 einen neuen Weltrekord über 5 Kilometer auf. Wenn er keine Wettkämpfe bestreitet, trainiert er in Iten (Kenia), wo er mit seiner Freundin Joan «Kolly» Jepkorir, 27, lebt. Sie führt dort das Midland Café, in dem ein «Julien Wanders Special»-Menü angeboten wird.
Text & Photos: Elisabeth Real