Wie jedes Mal, wenn das Aus-laufen mit Ziel Ostgrönland bevorsteht, ist mir bange. Und dies, obwohl wir in den letzten Jahren mit unserer 18-Meter-Segeljacht «Passage» Abertausende von Seemeilen in arktischen Gewässern zurückgelegt und letztes Jahr bei Spitzbergen den 80. Breitengrad übersegelt haben – für ein paar Tage befand sich kein anderes Segelboot so nahe am Nordpol! Aber die Ostküste Grönlands gilt als mörderisch, weil sie von Packeis gesäumt ist und die Fjorde der unzähligen Gletscher gelegentlich von derart heftigen Föhnstürmen heim gesucht werden, dass die Häuser mit Spanngurten im Boden verankert werden müssen. Von den knapp 60 000 Grönländern sind nur 2000 bis 3000 im Osten ansässig, verteilt auf die zwei Ortschaften Tasiilaq und das 450 gastfreundliche Seelen zählende Ittoqqortoor-miit. Letztere verfügt sogar über einen Supermarkt, der regelmässig – sprich zweimal im Jahr! – beliefert wird.
Die Mannschaft
Am Samstag trifft die neue Mannschaft ein. Leonie Schmid und Diane Seda, die sich ihre Sporen als Skipperin und First Mate verdienen, kenne ich schon. Die anderen Crewmitglieder sind mir noch unbekannt. Sie machen erst mal lange Gesichter, als sie die spartanische Einrichtung einer Rennjacht erblicken, ihre Kojen, in denen sie wie Sardinen übereinander ge-stapelt schlafen sollen. Die «Passage» ist kein schwimmendes Wohnzimmer, sie ist ein Ocean Racer, 1989 aus starkem Aluminium für das Whitbread Round the World Race gebaut – eine Maschine, um Stürmen zu trotzen und die Crew möglichst schnell und dennoch sicher über die Weltmeere zu tragen.
Unter weiblichem Kommando
Ostgrönland wird nur extrem selten angelaufen. Und meines Wissens sind wir die erste Segeljacht überhaupt unter weiblichem Kom-mando. Leonie und Diane, 27- und 28-jährig, sind selbst zusammengezählt noch ein gutes Jahrzehnt jünger als ich. Selbstverständlich werde ich ihnen bei Bedarf mit Rat beistehen, notfalls auch mit Tat, aber Letzteres erst, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht. Leonie ist am Zürichsee aufgewachsen – von Kindsbeinen an mit der elterlichen Jacht vertraut, in der Jugend Regattaseglerin – und hat das Gefühl für den Wind im Blut. Sie beginnt zu jauchzen, sobald der Wind an Stärke zulegt. Diane, Tochter eines US-Amerikaners und einer Iranerin, aufgewachsen in der Schweiz, ist letztes Jahr in Norwegen bereits mit uns gesegelt und kommt gerade von einer mehrmonatigen Mission auf einem norwegischen Segelschiff als Forscherin und Co-Skipperin zurück.
Durch die Dänemarkstrasse
Bevor wir in Reykjavik ablegen, müssen wir noch 500 Liter Diesel bunkern, um die Heizung, den Stromgenerator, den Wassermacher und bei Flaute auch den Motor zu versorgen. Zudem zwei Autoladungen Lebensmittel. Für die nächsten Wochen werden wir autark sein – ein abgeschlossenes Universum –, eingeschlossen in einer 18 Meter langen und 5 Meter breiten Aluminiumbüchse. Wir sind seit nunmehr zwei Tagen auf See und befinden uns auf 67 Grad Nord / 28 Grad West mitten in der sogenannten Dänemarkstrasse, als von Südwesten her ein kleines, aber bösartiges Tief aufzieht und uns zu einem Abstecher entlang der isländischen Küste zwingt.
Ein überhastetes Anlaufen der grönländischen Küste hätte unseren Untergang bedeutet. 150 000 Tonnen Packeis strömen jede Sekunde entlang der grönländischen Küste Richtung Süden. Dazu kommen die monströsen Eisbrocken, die bei Gletscherabbrüchen ins Meer stürzen. Von Wind und Wellen getrieben, hätte das Eis unsere Jacht zermalmt wie ein Weizenkorn zwischen zwei Mühlsteinen. Aber dank dem unfreiwilligen Abstecher ist unser Timing perfekt: Als die ersten Eisberge vor der wilden Kulisse der grönländischen Küste auftauchen, ist der Sturm, der uns in Windeseile über die Dänemarkstrasse getragen hat, abgeflaut.
Sicher vor Anker
Einen sicheren Hafen gibt es im Osten Grönlands nur bei Tasiilaq, südwestlich von uns. Der Rest der 3000 Kilometer langen Küste ist nur unvollständig und häufig gar falsch kartografiert. Letztes Jahr sind wir gemäss Seekarten beispielsweise meilenweit über Land gesegelt und haben in 80 Metern Höhe an einem Berghang geankert! Und jetzt wären wir um ein Haar an einem Riff zerschellt, das auf keiner Seekarte verzeichnet ist – eine Felsnadel, die steil aus der Tiefe bis knapp unter die Oberfläche reicht und deren weiss schäumende Brandung kaum von den vielen Growlern (Eisbrocken von der Grösse eines Autos) zu unterscheiden ist.
Dank der Aufmerksamkeit des Rudergängers und der Geistesgegenwart der Crew, die blitzschnell eine Notwende einleitete, konnten wir unversehrt eine Position anlaufen, an der gemäss dem aktuellen britischen Seehandbuch die siebte Thule-Expedition im August 1931 einen geschützten Ankerplatz gefunden haben soll. Im Osten Grönlands ist die Zeit stehen geblieben. Wir aber werden nächstes Jahr wieder von Holland aus Richtung Grönland aufbrechen, via Schottland, Hebriden, Färöer und Island.
Information
Wer wissen möchte, welche Fährnisse wir in den folgenden Wochen umschifft haben, kann das im Blog nachlesen unter: mareincognita.ch
Text: Till Lincke
Photo: Luca Zanetti