Der Berg strahlt eine einzigartige Magie aus, obwohl die gegenüberliegenden Gipfel Eiger, Mönch und Jungfrau alpinistisch klingendere Namen tragen. Das Geheimnis seines Zaubers liegt nicht darin, ihn kühn und geschickt zu besteigen, sondern darin, so schnell wie möglich seine Hänge runterzubrettern – das Lauberhorn ist die skisportliche Herausforderung schlechthin.
Als Ernst Gertsch in den Urzeiten des Skifahrens die kühne Idee eines Rennens lancierte, wurde er ausgelacht. Gleichwohl trommelte er ein 500-Franken-Budget (heute 8,7 Millionen) zusammen. Am 1. und 2. Februar 1930 fanden am «Hore», wie es die Wengener nennen, die ersten Rennen statt, erst die Abfahrt, dann der Slalom, den die besten 40 der Abfahrt bestreiten durften. Diesen gewann Gertsch gleich selbst, trotz 5 Sekunden Zeitzuschlag wegen eines Torfehlers!
Die Piste führte über die Wengernalpbahn, über die eine Holzpritsche gelegt wurde. Wenn ein Zug nahte, entfernte man diese und unterbrach das Rennen. Athleten aus fünf Nationen nahmen teil, darunter auch Frauen. Eine als «Miss Carole» im Klassement aufgeführte Rennfahrerin liess 20 Männer hinter sich. In der Fachzeitung «Sport» schrieb der Chefredaktor nichtsdestotrotz: «Wir machen keinen Hehl daraus, dass Skifahren nicht der Sport der Frau ist.»
In den ersten 20 Jahren gaben die Einheimischen den Ton an. Karl Molitor gewann elfmal, davon sechsmal die Abfahrt. Er prägte den Satz: «Das Lauberhorn ist ein Meisterwerk des Herrgotts.» Auch Bernhard Russi, Pistenarchitekt und Skilegende ohne Verfalldatum, ist tief beeindruckt von diesem Wunderwerk der Natur: «Wenn du im Starttor stehst und die atem-beraubende Kulisse siehst, wirst du demütig.» Trotzdem hätte er bei seinem ersten Lauberhorn-Start vor lauter Bammel das Starthäuschen am liebsten durch die Hintertür wieder verlassen.
Die Lauberhorn-Abfahrt ist 4,5 Kilometer lang, länger als jede andere, und gnadenlos. Triumph und Tragödie liegen nahe beieinander. Die Namen der Streckenabschnitte zeugen von schweren Stürzen. An der Minschkante brach sich Jos Minsch die Hüfte. Im Canadian-Corner landete fast das komplette Team Canada im Netz. Das Kernen-S warf Bruno Kernen ab. Und im Österreicher Loch gingen einst sieben Österreicher zu Boden, darunter Toni Sailer. Später siegte er viermal, wurde Schauspieler und ging als erster «Popstar» in die Skigeschichte ein.
Im Haneggschuss erreichen die verwegenen Skipiloten Tempi von über 160 km/h. Den derzeitigen Rekord hält der Franzose Johan Clarey mit 161,9 km/h. «Das war für mich immer die heikelste Passage», sagt der fünffache Weltcup- Gesamtsieger Marc Girardelli. «Da hatte ich richtig Angst. Du fährtst mit unglaublichem Tempo auf eine Kompression zu, die meist im Schatten liegt.» Girardelli ist neben Jean-Claude Killy der Einzige, der am Lauberhorn Abfahrt, Slalom und Kombination gewann.
Kein anderer Veranstalter pflegt diese drei traditionellen Disziplinen wie Wengen. Sie sind die einzigen, die – trotz gegensätzlichem Trend beim Internationalen Skiverband (FIS) – an der klassischen Kombination Abfahrt/Slalom festhalten. Seit Beginn der Weltcupära 1967 figuriert die Kombination immer im Programm, heute sogar mit ähnlichem Modus wie vor 90 Jahren. «Lauberhorn-Vater» Ernst Gertsch war seiner Zeit in der Tat weit voraus.
Mit dem Weltcup wurden die Lauberhornrennen noch bedeutender und wuchsen zu einem Monument heran, das jedes Jahr gut 70000 Zuschauer an die Piste und allein in der Schweiz eine Million vor den Bildschirm lockt. Keiner beschreibt die magische Anziehungskraft besser als der zweifache Abfahrtssieger Beat Feuz: «Wer das Lauberhorn nicht liebt, ist selber schuld. Die Stimmung und die Atmosphäre sind einmalig. Das fängt schon mit der Anreise an, der Bahnfahrt von Lauterbrunnen nach Wengen. Man sitzt dichtgedrängt im Zug mitten im Publikum und fühlt sich 50 Jahre zurückversetzt. Das macht die Faszination aus.»·
Information
Das autofreie Dorf Wengen liegt auf einer Höhe von 1.274 Metern und zählt rund 1.300 Einwohner. Das Rennprogramm besteht aus der Abfahrt, dem Slalom und der Alpinen Kombination. Den Streckenrekord in der Abfahrt hält derzeit Kristian Ghedina (Italien) mit 2:24,23 aus dem Jahr 1997. Und der bisher schnellste Sieger war Franz Klammer (Österreich) mit seinem Vorsprung von 3,54 Sekunden im Jahr 1973. Für den Jubiläumsanlass 2020 waren alle bisherigen Asse eingeladen - auch Karl Schranz (sechs Siege, erster 1959). Als The Airline of Switzerland ist SWISS stolz darauf, die Lauberhornrennen seit 2012 zu unterstützen.
Text: Richard Hegglin
Publikationsdatum: 07.12.22