In den Bäumen hängt Nebel, auf den Wiesen liegt Schnee. In unserem Wohnmobil zeigt der Thermometer 21 Grad an. Die Aussentemperatur liegt nahe der Nullgradgrenze. Wir zählen den vierten Tag unseres Roadtrips durch Japan. Das Ziel: Den Reiz der Kirschblüte einfangen. Stattdessen steuern wir in winterlicher Landschaft ein Onsen, ein japanisches Badehaus, an. Sakura heisst die Kirschblüte auf japanisch. Wenn in Japan tausende Zierkirschbäume blühen, findet hier mehr als nur ein Naturspektakel statt. Sakura steht für Vergänglichkeit, für Wandel und vor allem: für Aufbruch. Der Winter endet, der Frühling bringt Leichtigkeit mit sich. Für die Schüler endet das Schuljahr und ein neues beginnt. In der Arbeitswelt endet das Fiskaljahr und Beförderungen werden ausgesprochen. Familien sitzen in Parks unter den Kirschbäumen und picknicken. Hanami, übersetzt «Blüten betrachten», nennt man diese geselligen Zusammenkünfte.
"Die Kirschblüte hielt sich nicht an unseren Reiseplan."
Das Journalisten- und Fotografen-Duo wurde auf seinem Roadtrip von einem Kälteeinbruch überrascht.
Ankunft in Osaka
Wie Millionen von Japanern und Touristen, möchten wir das Spektakel erleben. Die Planung der Reise war minutiös. Bereits zwei Monate vor Ankunft in Osaka konsultierten wir die Prognosekalender zur Kirschblütenzeit. Ein japanerfahrener Kollege meinte: «Die meteorologischen Kirschblütenprognosen in Japan sind unheimlich genau.» Das hörten wir gerne. Flexibilität rechneten wir ebenfalls ein. Wir wählten als Fahrzeug ein Wohnmobil, um vor Ort in die Himmelsrichtung losfahren zu können, in der die Kirschblüte sich in voller Pracht zeigen würde. Dann, wenige Tage vor unserer Ankunft in Japan, veranstaltete das Wetter Kapriolen. Ein kurzer Kälteeinbruch überzog das Land. Kurzum: Die Kirschblüte hielt sich nicht an unseren Reiseplan.
Dafür standen wir in Osaka einem lächelnden Herr Fuwa, dem Vermieter des Wohnmobils, gegenüber. Er zeigte uns alle Schalter und Hebel des Wohnmobils, übergab uns den Schlüssel des Gefährts und wünschte uns eine gute Fahrt. Eine Fahrt wohin?
Grundsätzlich gilt: Die Kirschblüte wandert von Süden in Richtung Norden. Doch selbst im Süden wartete man noch auf das grosse Blühen. Ja, man erwartete die Blütezeit in der Region Kyoto und Osaka gar einen Tick früher. Aber Däumchen drehen und rumsitzen? Da steigen wir lieber in unser fahrbares Hotel und ziehen los. Was man bei einem Roadtrip durch Japan erwarten darf? Eine Menge Spass, viel Neues und ...
... Orte, die in keinem Reiseführer stehen
«Google Maps zeigt mir hier einen Weg an.» Mein Reisepartner, der Fotograf Nico Schaerer, der am Steuer sitzt, schüttelt den Kopf. «Nein, da ist kein Durchkommen.» Wir stehen in einer Sackgasse in einem kleinen Fischerdorf. Die Sonne senkt sich. Wir schnappen uns aus dem Kühlschrank ein Bier, verlassen spontan unser Gefährt und setzen uns an den Strand. So ergeht es uns die Tage oft. Wir finden uns an Orten wieder, deren Charme der Alltag ist. Die einfach, aber typisch japanisch geordnet und gepflegt daherkommen. Und deren Bewohner einem leicht irritiert anschauen und sich wahrscheinlich fragen, was diese zwei Touristen hier zu finden glauben.
... grossartige Sehenswürdigkeiten
Genauso steuern wir die Orte an, deren Bilder für Japan stehen: der Mount Fuji, die Chureito Pagode, die Nachi Wasserfälle, die badenden Affen im Jigokudani Affenpark oder der Kinkaku-ji, der goldene Tempel in Kyoto.
... das tägliche Onsen-Erlebnis
Eine Dusche haben wir im Wohnmobil nicht. Viel besser: Wir haben unser tägliches Onsen-Ritual. Ein Erlebnis mit Suchtfaktor. Bei den japanischen Onsen handelt es sich um Gemeinschaftsbäder. Wir treffen sie auf unserer Reise täglich an. Oft sind sie von heissen Quellen gespiesen und kommen in allen Variationen, von einfachen Bädern in Dörfern bis zu traumhaften Anlagen in der Natur, daher.
... Sushi, Sashimi und Co.
Morgens wenn der Duft des frisch gebrühten Kaffees die Nasengänge beglückt, sind wir froh, dass das Wohnmobil über eine kleine Küche verfügt. Ansonsten können wir uns der lokalen Kulinarik nicht entziehen. Oft treffen wir in kleinen Dörfern hervorragende Restaurants an. Speziell an den Küsten, wo Kneipen fangfrischen Fisch, zu Sushi und Sashimi verarbeitet, auftischen.
… japanische Freundlichkeit
Wo denn die Toiletten seien, frage ich eine Kassiererin in einer Autobahnraststätte. Sie lächelt, schliesst die Kasse ab und lässt die anderen Kunden stehen. Ich solle ihr folgen, sagt sie und während ich denke, dass ich nun von den anderen Kunden böse Blicke ernte, lächeln mich auch diese an. Mit Engelsgeduld führt mich die Kassiererin ans andere Ende der Raststätte und zeigt mir die Türe zu den Toiletten. Szenen wie diese gehören zu unserer Reise - die Freundlichkeit der Japaner ist schlicht Weltklasse. Vielen Dank - Dōmo arigatō!
… und besten Tee
Was auch immer die Japaner tun, sie perfektionieren es. Beim «Kobe Beef» wird das Rind mit Bier oder Sake massiert, bei der Kaffeezubereitung wiegen die Baristas die Kaffeebohnen für eine Tasse aufs Gramm genau ab. So erstaunt es nicht, dass man die Teekultur mit derselben Sorgfalt pflegt. Im Horaido Tea Shop in Kyoto’s Teramachi Market treffen wir auf einen Meister seines Fachs: Yasuhiro Yasumori. Sein Reich ist ein kleiner Shop, vollgestopft mit Teekannen, Tassen, sonstigten Utensilien und unzähligen Teesorten. Wer bei ihm Tee kauft, darf sich Zeit nehmen. Im gemeinsamen Gespräch wird eruiert, für welchen Anlass, welche Uhrzeit man einen Tee benötigt und was die persönlichen Präferenzen seien. Das Frage-Antwort-Spiel geht solange, bis der Tee-Meister weiss, welcher Tee der Richtige für einen ist. Wer bis anhin der Meinung war, Grüntee sei gleich Grüntee, der wird hier eines Besseren belehrt.
Und sie blühen doch!
Als wir nun am anfänglich erwähnten vierten Tag unsere Körper im dampfend heissen Wasser der Takaragawa Onsen nördlich von Tokio am niedergaren sind, vernehmen wir, dass die Kirschblüte in Kyoto ihren Anfang nimmt. Wir fahren los und mit einigen Umwegen erreichen wir Kyoto. Das Bild, das wir vorfinden ist ziemlich kitschig. Überall blühen die Kirschbäume und es scheint, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen, in den Parks und unter den Baumalleen. Junge Frauen leihen sich Kostüme aus und schminken sich im Stile der Geishas. Vor Blüten posierend lichten sie sich gegenseitig ab. Kameras klicken und Selfies werden geschossen. Die Stadt scheint im Ausnahmezustand zu sein. Doch dann folgt das Unvermeindliche - es begegnet uns in der Person des Herrn Fuwa. Er nimmt die Schlüssel des Wohnmobils wieder entgegen und ein grossartiger Roadtrip endet. Aber es ist Sakura. Was heisst, dass wenn etwas endet, ein neues Abenteuer beginnt.
Text: Martin Hoch
Fotos: Nico Schaerer
Publikationsdatum: 02.05.23