Zwischen Vintage und Avant-Garde: Einmal quer durch Toronto mit Creative Director Dom

Lebenslustig, vielfältig und authentisch: Man weiss gar nicht genau, wem man diese Attribute eher zuteilen soll: Toronto – oder Dominique, die von allen «Dom» genannt wird. Bei diesen Gemeinsamkeiten ist es kein Wunder, dass die 36-jährige Schweizerin ihre Zeit in Kanadas grösster Stadt so sehr genossen und dort Freundschaften fürs Leben geschlossen hat. Dom, die in Zürich als Creative Director arbeitet, hat vor einiger Zeit in Toronto gelebt und war dort in verschiedenen Agenturen tätig. Ihre Zeit und ihre gesammelten Erfahrungen in Kanada haben ihre Denkweise, ihre Karriere und ihre Persönlichkeit enorm bereichert, weswegen Doms Begeisterung beim Besuch ihrer ehemaligen Heimatstadt einen sofort ansteckt.

«Eine Stadt der Extreme …

… super heiss im Sommer, unglaublich kalt im Winter. Im Vergleich zu anderen Städten ist Toronto zudem viel wilder. Obwohl Grossstadt, gibt es kleine Ecken und Nischen, in denen man zur Ruhe kommen und sich inspirieren lassen kann.» So beschreibt Dom Toronto. Wie in der Schweiz ist man ausserdem sehr schnell draussen in der Natur, wo viele Einwohner:innen für den klassisch nordamerikanischen «City Escape» ihre Ferienhäuser haben. Für Dom als Schweizerin, die eine spektakuläre Natur liebt, natürlich ein grosses Plus.

Von wegen Einheimischen – oder auch «Torontonians», wie sie genannt werden: Circa 3 Millionen Menschen aus 160 Nationen, die knapp 200 Sprachen sprechen, leben in der Stadt. Dies macht Toronto zu einem kulturellen Schmelztiegel, und man sagt, dass die Stadt ohne Eingewanderte nicht denkbar, nicht lebensfähig und auch nicht besuchenswert sei.

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Bunt und divers – so präsentieren sich nicht nur die Torontonians, sondern auch die vielen Wandbilder und Graffitis, die sogar in einer eigens dafür zugeteilten Gasse bestaunt werden können, der «Graffiti Alley».

Laut Dom kann man die Einwohner:innen daher nicht als «typisch» beschreiben, da sie ebenfalls so divers sind wie die Stadt selbst. Sie seien mindestens so beschäftigt wie New Yorkerinnen und New Yorker, aber mit dieser gewissen Freundlichkeit und Gelassenheit, die allen Kanadier:innen gemein sind.

Wie es Dom aus der Schweiz nach Toronto gezogen hat? Nach ihrer Ausbildung als Grafikerin konnte Dom es kaum erwarten, ihren Rucksack zu packen und Südamerika zu erkunden. Der Weg führte von Costa Rica nach Kolumbien und von dort nach Vancouver, wo sie eigentlich nur snowboarden wollte. Dort verliebte sie sich aber und beschloss zu bleiben. Nach Vancouver folgte Toronto, wo sie alle Jahreszeiten miterlebte, bevor die Sehnsucht nach ihrer Familie und ihren Freundinnen und Freunden in der Schweiz zu gross wurde und sie wieder zurückkehrte. Kanada wird jedoch für immer einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen haben. Daneben ist noch etwas anderes aus ihrer Zeit in Kanada geblieben: Ihre Liebe zur Natur lebt Dom bei langen Wanderungen aus, wie auf dem Pacific Crest Trail, einem knapp 4.300 km langen Fernwanderweg im Westen der USA. Inzwischen gehören auch der Arctic Circle Trail in Grönland (160 km), die Via Alpina durch die Schweiz (390 km), der Kungsleden in Schweden (470 km) und der Te Araroa in Neuseeland (3.000 km) zu ihrem Wanderportfolio.

Es sind nicht zwingend die bekannten Sehenswürdigkeiten …

… die man gesehen haben muss. Das echte Toronto erlebt man, indem man einfach zu Fuss von Quartier zu Quartier schlendert, denn jede Kultur hat ihr spezifisches Viertel: Little Italy, Chinatown, Greektown, Little India, Little Poland … «Auch wenn Toronto eine Grossstadt ist, so kann man sehr gut alles zu Fuss zu erkunden», beschreibt Dom. Was einem beim Stadtspaziergang auffällt: die unterschiedlichen Stadtviertel «fliessen nicht ineinander über», sondern man läuft einfach auf die andere Strassenseite und schon ist man vom Geschäftsviertel mit Hochhäusern in Chinatown voller kleinen bunten Lokalen. So kontrastreich erlebt man das in kaum einer anderen Stadt.

«Im Vergleich zu anderen Städten ist Toronto viel wilder. Obwohl Grossstadt, gibt es kleine Ecken und Nischen, in denen man zur Ruhe kommen kann.»

Dom
Creative Director

Am meisten liebt Dom das Kensington-Viertel mit seinen hippen und individuellen Läden und Cafés. Wer hier etwas Kommerzielles von der Stange sucht, ist falsch, so einzigartig sind die Geschäfte, die Ladenbesitzer:innen und Einwohner:innen – schlicht das gesamte Erlebnis. Beim Schlendern zwischen den bunten Holzhäusern fühlt man sich tatsächlich so, als würde man dazugehören. Besonders Vintagemode-Liebhaber:innen sollen sich an dieser Stelle angesprochen fühlen, denn Kensington ist im ganzen Land bekannt für seine sorgsam kuratierten und gepflegten Second-Hand-Läden. Viele werden sich in Doms Aussage wiedererkennen, dass es sei, als wäre man auf einer Schatzsuche, man wisse nie, was man genau findet. Es sind dann immer Dinge, «die niemand anderes hat und die damit eine Erinnerung schaffen, die ebenfalls niemand sonst hat».

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Das Kensington Viertel ist ein Shopping-Mekka für Liebhaberinnen und Liebhaber von Vintage Mode.

Apropos Erinnerung: Das Tattoo aus dem Film zeigt …

… Doms Grossvater, der mit seinem Motorrad ganz Skandinavien durchquert hat – eine Abenteuer- und Reiselust, die er seiner Enkelin weitervererbt hat. Daher ziert nun ein Foto von ihm, wie es auch ein Filmposter sein könnte, ihren Arm. Gestochen hat es Alex, eine Freundin, die Dom damals in Toronto kennengelernt hat und mit der sie immer noch in Kontakt steht. Dom lässt sich ihre Tattoos übrigens nie in der Schweiz stechen, sondern stets im Ausland, um die Erinnerung an diese Orte ebenfalls für immer mitzunehmen.

«Natürlich war es die Schokolade …

… die ich – nach meiner Familie und Freunden – am meisten in Kanada vermisst habe. Welche Schweizer:innen tun das nicht?», fragt Dom lachend. Aber auch Brot und Käse kommen hier nicht ganz an ihre Schweizer Pendants heran. Sie erzählt mit einem Augenzwinkern, dass ihre damaligen kanadischen Arbeitskolleg:innen sie in ihrer ersten Woche zum Fondue-Essen eingeladen haben, was allerdings nicht die beste Erinnerung sei. Manche Traditionen solle man also lieber dort lassen, wo sie hingehören.

Was also darf man auf gar keinen Fall verpassen, wenn man sich dem originalen Torontonian-Gefühl hingeben möchte? Hier sind Doms beste Insider-Tipps für das Toronto gefragt, wie sie es liebt und wie sie in keinem Reiseführer zu finden sind.

 

Doms persönliche Reisetipps

Royal Ontario Museum
Unter einem Tyrannosaurus Rex stehen? Auch das ist in Toronto möglich. Nämlich im Royal Ontario Museum, auch ROM genannt, das sich zum Ziel gesetzt hat, eine der weltweit führenden Kulturinstitutionen des 21. Jahrhunderts zu werden. Besucht man dieses Museum, das einem bereits von aussen aufgrund seiner spektakulären Architektur fast die Sprache verschlägt, dann ist man mit seinem Vorhaben auf einem guten Weg.

Art Gallery of Ontario

Die Art Gallery of Ontario, kurz «AGO», gehört mit einer Sammlung von mehr als 90.000 Kunstwerken auf 45.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zu den bedeutendsten Kunstmuseen Nordamerikas. Das altehrwürdige Gebäude wurde 2008 vom weltberühmten kanadischen Architekten Frank Gehry mit einem stahlblauen Anbau und spiralförmigen Treppen erweitert. Für Gehry, der schon lange in Kalifornien lebt, ist es das erste Projekt in seiner Heimatstadt Toronto. Dass er sich hier ein monumentales Erbe gesetzt hat, bestätigt auch die New York Times: «Ein Lehrbuch-Beispiel, wie Architektur respektvoll gegenüber der Vergangenheit sein kann, ohne sich ihr zu beugen.»

«Exile» – Second-Hand-Shopping at its best

Seit 1975 Jahren befindet sich der schon von aussen auffällige «Thrift Shop» in Familienhand und ist bis heute mit seinen schätzungsweise 1.500 Quadratmetern sicherlich einer der grössten in ganz Toronto. Das Sortiment ist auf kein Thema oder Epoche spezialisiert, sondern – richtig erraten – den 1940ern, 1960ern, 2000ern …  einfach jedem Zeitalter zugehörig! Fein säuberlich und thematisch sortiert, ist jedes Stück sorgsam gewaschen, gebügelt und – wenn nötig – geflickt. Recyclet wird ebenfalls im grossen Stil, vor allem auch alte Stoffe und Materialien, damit diese möglichst lange getragen werden können. Die Kleider sind zudem exklusiv fürs Exile kuratiert, nichts landet zufällig hier. Mutter und Sohn, die heute das Geschäft führen, beziehen sie aus ganz Nordamerika, zum Beispiel aus Nachlassverkäufen, von Filmsets und Stylisten. Letztere verkaufen ihre Requisiten nicht nur ans «Exile», sondern besorgen sich ausgefallene Teile auch von hier. Kein Wunder, dass auch andere aus der Entertainmentbranche in dem Laden fündig werden, wie zum Beispiel Beyoncé, Lenny Kravitz, Rod Stewart und viele weitere.

Rotate This – eine Institution des Vinyl Booms

Die Nachfrage nach Schallplatten ist inzwischen wieder so gross, dass es vor einiger Zeit sogar zu einem Stau in den Presswerken kam. Dies bestätigt einer der führenden und bekanntesten unabhängigen Schallplattenläden Torontos Rotate This mit seinem Motto «Musik, die uns glücklich macht». Neben Neuerscheinungen von unabhängigen Bands, Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt bietet er auch einen grossen Fundus an älteren Vinyl-Platten. Daher werden auch fast alle Genres bedient: Hip-Hop, Punk, Jazz, Hardcore, Reggae, Elektronik, Indie … kurz gesagt: ein Paradies für Musikliebhaber:innen.

Fika Coffee – eine Pause mit Zimtschnecken

Wer vom Shopping im Herzen Kensingtons eine Pause braucht, der ist hier richtig. Wer Süsses liebt, umso mehr. Stichwort: hausgemachte Zimtschnecken! Was einem das Wasser direkt im Munde zusammenlaufen lässt, mag zwar im ersten Moment untypisch für Toronto klingen – aber sie könnten nicht besser hierher passen. In über zehn Jahren hat der Gründer Yadi Arifin diese Spezialität so perfektioniert, dass man meinen könnte, Zimtschnecken seien hier erfunden worden. Auch Kaffee-Fans können sich auf regelmässig wechselnde Kaffeespezialitäten freuen, alle natürlich aus kanadischen Röstereien. www.fika.ca

Mother Bar – Cheers auf Fermentation

Ein komischer Name für eine Bar? Ganz und gar nicht! Der mehrmalige Cocktail World-Class-Teilnehmer und Barbesitzer Massi hat mit seiner Mother Bar eine kleine Oase für Liebhaber:innen des besonderen Geschmacks errichtet. Die kanadische Cocktailszene aufwertend, rangiert sie derzeit als Nummer 37 der «besten 50 Bars Nordamerikas» und auf Platz 7 der besten kanadischen Bars. Das Prinzip: Die Rezepte basieren auf Fermentation. Und da der «Mutterteig» die Basis der Produkte ist: der Name Mother. Neben hausgemachten und regelmässig wechselnden Kombucha-Sorten gibt es raffinierte Cocktails und feinste Bar Snacks, die durchaus auch als komplettes Abendessen genossen werden können. Ideal für Aperitifs, Digestifs oder bei Durst und Appetit zwischendurch.

www.motherdrinks.co

Prime Seafood Palace – wo das Auge mitisst

Der Name mag im ersten Moment etwas prätentiös klingen, sobald man das Restaurant allerdings betritt, findet man sich tatsächlich in einem Palast aus Ahornholz, Licht und lachsfarbenen Sitznischen wieder. Chefkoch Matty Matheson serviert ausschliesslich Produkte, «die von Menschen angebaut, gefangen und aufgezogen wurden, die uns am Herzen liegen». Die sorgfältig zusammengestellte Speisekarte bietet ein ausgewogenes Verhältnis aus fantastischen Meeresfrüchten, gegrillten Fleischsorten und raffinierten Gemüsegerichten. Für einen besonderen Abend, an dem man etwas zu feiern hat – auch wenn es einfach nur der Besuch in Toronto ist. primeseafoodpalace.ca

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Neben den frischen Zutaten ist es auch der Raum, der dieses Restaurant so besonders macht.

Hanmoto Restaurant – ein Muss für Foodies

Von aussen eher unscheinbar, fühlt man sich beim Tritt durch die Tür in einen asiatischen Gangstermovie versetzt: Auf kleinstem Raum findet man eines der besten Beispiele für Torontos blühende Imbisskultur, auch wenn die japanisch-amerikanisch inspirierten Gerichte eigentlich zu köstlich und einfallsreich sind, um als Snacks bezeichnet zu werden. Angerichtet werden sie ausserdem wie in einem Fine-Dining-Restaurant, sodass es schwerfällt, das Handy nicht zu zücken. Den Vibe beschreiben manche als «Izakaya-trifft-auf-Hinterhof-Speakeasy mit Wu-Tang-Clan-Soundtrack». Noch Fragen? Am besten selbst hin, erleben und sich überzeugen lassen. instagram.com/hanm0t0

Bevvy’s – Trendsetter der nüchternen Trinkkultur

Ein Trend, der längst die grossen Metropolen erreicht hat, hat sich nun auch in Kensington niedergelassen: nicht- alkoholische Alternativen zu Spirituosen, Wein oder Bier. Ende 2023 hat das Bevvy’s eröffnet, das erste eigenständige Geschäft für alkoholfreie Getränke aller Art: Mit viel Geschmack, aber ohne Prozente, und teilweise auch ganz ohne Zucker. Auf die Idee gekommen ist der Besitzer Cristian Villamarin, als er in einem Supermarkt nach verschiedenen nicht-alkoholischen Getränken suchte. Frustriert über die kleine Auswahl und angesichts der inzwischen doch unglaublichen und wachsenden Markenvielfalt an hochwertigen alkoholfreien Produkten beschloss er, diesen abseits von Online Stores eine Plattform zu bieten. Das «Bevvy’s» war geboren.

Graination – das «one-stop»-Fotolabor

Wer Möglichkeiten sucht, analoge Erinnerungen zum Leben zu erwecken, der hat es immer schwerer. In Torontos führendem Fotolabor Graination wird daher ein kleiner Traum für Fans der Analog-Fotografie wahr. Während man handgebrühte Kaffeespezialitäten geniesst und sich im Graination-Blog über Fotografie-Tipps informiert, werden ein paar Schritte weiter im Labor die Aufnahmen entwickelt. Dies ist auch das einzige Labor im ganzen Staat Ontario, das alle Arten von Filmen entwickelt – von der fachmännischen Fotoreproduktion bis zum präzisen Bilddruck.

Text: Jeannine Kanwischer

Film & Images: Oliver Lips, Jeannine Kanwischer, Tim Holder, Mother Bar, Bevvy’s

Production: McQueen Films

Publiziert am: 18. April 2024