“This is Tina“, sagt Tom Calver und lacht. Tina ist ein gut fünf Meter hoher Stahlkoloss von erstaunlicher Wendigkeit, ein Roboter um genau zu sein. Sie – oder er? – stammt aus dem schweizerischen Romont und wurde ursprünglich erfunden, um schwere Gruyère-Laibe zu drehen. „Wir haben die Ingenieure überredet, den Roboter an unsere Cheddar-Formen anzupassen“, erzählt Tom, dessen Käserei Westcombe Dairy zu den besten, innovativsten und ökologisch Nachhaltigsten in ganz Somerset gehört, „Tina ist die Erste ihrer Art. Wir haben sie nach Tina Turner benannt“.
Vollautomatische Pflege
Tinas Arbeitsplatz ist der riesige, beinahe unsichtbar in einen Hügel gegrabene Reifekeller der Käserei. Unermüdlich fährt der Roboter die hohen Holzregale entlang, hievt behutsam einen der 25 Kilogramm schweren Laibe heraus, bürstet die Rinde ab, dreht ihn einmal um die eigene Achse und legt ihn zurück. Dieses Prozedere hilft, die Feuchtigkeit im Käse gleichmässig zu verteilen und vermiedet, dass der Käse an den Holzregalen festklebt. Es ist einer der vielen Schritte, die aus einem Cheddar einen super guten Cheddar machen.
Verzicht auf weiteres Wachstum
Westcombe Dairy existiert seit 1879. Die Käserei startete als kleiner handwerklicher Betrieb, wurde dann immer grösser und industrialisierter, bis in den 1970er-Jahren der Cheddar komplett maschinell produziert wurde. Irgendwann mussten die Calvers entscheiden, ob sie weiter wachsen, beträchtliche Investitionen tätigen und sich dem Wettbewerb mit den grossen Molkereien der Region stellen wollte. Sie entschieden sich dagegen. Was die Sache nicht vereinfachte. „Mein Vater Richard produzierte jahrelang gar keinen Käse oder dann nur kleine Mengen aus der Milch der eigenen Kühe. Er hatte Mühe, ihn zu verkaufen“, erzählt Sohn Tom, der damals als Koch in London tätig war. 2006 kehrte er zurück nach Somerset. Einerseits, weil er genug vom Stadtleben hatte, anderseits, weil er seinem Vater helfen wollte. Er versucht es mit besserem Marketing, begriff aber dann, dass es der Käse ist, der verbessert werden musste.
„Es ist viel besser, mit der Natur zu arbeiten, als gegen sie.“
Käseproduzent
Milchqualität verbessert
Aber wie? Hier kommt dem Junior seine Erfahrung als Koch zugute: „Ich wusste: Ein gutes Gericht kann nur mit guten Zutaten entstehen. Ich brauchte also eine hervorragende Milch“. Es folgt ein langer Prozess, bei dem fast alles umgekrempelt wurde – von der Kuhrasse und dessen Ernährung über die technischen und chemischen Produktionsprozesse bis zur Bepflanzung der Weiden. Heute grasen die rund 360 Kühe der Westcombe Dairy auf wild wachsenden Wiesen mit einem bunten Gemisch aus Gräsern, Kräutern und Pflanzen. Auf Düngemittel wird verzichtet, was der Gesundheit und Widerstandsfähigkeit des gesamten Ökosystems zugutekommt.
„Wenn man auf Qualität setzt, regeln sich viele andere Dinge von selbst. Es entsteht ein ganzheitliches, landwirtschaftlich orientiertes System der Lebensmittelproduktion“, ist Tom Calver überzeugt, und: „Es ist viel besser, mit der Natur zu arbeiten, als gegen sie“.
Nicht nur Käse
Nach wie vor kümmert sich sein Vater Richard um den Hof und um die Tiere, Tom selbst um den Käse und die Entwicklung von Westcombe Diary, wo inzwischen auch Brot und Wurstwaren produziert werden. Auf dem Hof entstehen ein wunderbar vielschichtiger, 12 bis 18 Monate lang gereifter Rohmilch-Cheddar, ein jüngerer und milderer Duckett's Caerphilly, ein leicht geräucherter Cheddar und ein würziger, samtig-weicher Ricotta. Dazu kommen ein dunkles Sauerteigbrot aus alten Getreiden, die zum Teil auf den eigenen Feldern wachsen und zum Teil auf jenen einer befreundeten Nachbarfarm, von der auch das Schweinefleisch für die Saucissons, Sobrasadas (eine luftgetrocknete, streichfähige Rohwurst) oder Finocchionas (Salami) kommt, das wiederum mit dem Fleisch der Westcombe-Kälber vermischt wird. Das nachbarschaftliche Zusammenspiel macht Sinn – auch ökologisch. Denn Käserei, Bäckerei und Charcuterie bilden eine Art Produktionskreislauf: Was beim einen übrig bleibt, wird beim anderen weiterverwendet.
Star des Betriebs aber bleibt der Cheddar. Mit einer Produktion von 100 bis 120 Tonnen pro Jahr gehört Westcombe Dairy zu den kleinsten Käsereien in Somerset. Zum Vergleich: In den beiden Grossbetrieben der Region entstehen zusammengerechnet fast 200 Tonnen pro Tag. Die werden allerdings nicht wie die Laibe aus dem Minidorf Westcombe mit Preisen überhäuft, in den besten Käseläden des Landes verkauft und in die ganze Welt exportiert, sondern landen sang- und klanglos in den Theken der Supermärkte. Doch entscheidend ist etwas anderes: Viele Käser und Farmer folgen dem Weg der kleinen, handwerklichen und nachhaltigen Produktion – nicht immer primär aus ökologischen Gründen, sondern weil das Resultat so viel besser ist. Und weil die Vielseitigkeit der Prozesse und die Energie, die in der Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten entsteht, so viel Spass macht. Als nächstes soll eine Bierbrauerei auf den Hof ziehen. Den dafür nötigen Hopfen bauen Tom Calver und ein paar andere Somerset-Höfe bereits an.
Text: Patricia Engelhorn
Fotos: Marvin Zilm
Publiziert am: 27.04.2023